[Antisemitismus
in Osteuropa]
RECHTSEXTREMISMUS
Sind Neofaschismus,
Antisemitismus und Radikalpopulismus auch in Mittel- und Osteuropa
zur Normalität geworden?
Prof. Dr. habil. Karl-Heinz Gräfe
Nationalistische Mythen im Aufschwung
freitag.de / 31.08.2001
Seit der Systemtransformation, der Ausbildung von
politischem Pluralismus und dem Übergang von der staatlichen
Zentralwirtschaft zur freien Marktwirtschaft gehören
rechtsextremistische Parteien, Organisationen und Bewegungen
zwischen Berlin und Moskau, Warschau und Bukarest, Prag und Budapest
zum Alltag.
Sie verfügen über Verlage, Zeitschriften und
Zeitungen, sind mit den rechtsradikalen und altfaschistischen
Emigrantenzentren in Westeuropa und in den USA verbunden. Das Ausmaß
der Tätigkeit der ost- und mitteleuropäischen rechtsextremistischen
Parteien und Organisationen sowie ihr Einfluss in Parlamenten, auf
Regierungen und in der Gesellschaft sind in der deutschen
Öffentlichkeit nicht allzu bekannt.
Bei allen Gemeinsamkeiten treten die organisierte
rechte Intoleranz und Gewalt in Ost- und Mitteleuropa in
vielfältigen Erscheinungsformen auf. Ultranationalisten agieren in
Slowenien, in der Slowakei, in Ungarn, Tschechien, Rumänien,
Litauen, Estland und in der Ukraine. Als faschistisch einzustufen
sind Parteien in Polen, Tschechien, der Slowakei, in Ungarn,
Rumänien, Ukraine, Lettland und Litauen; in Deutschland am
bekanntesten sind die Serbische Radikale Partei unter Vojtech Seselj
und die Liberaldemokratische Partei Russlands unter Vladimir
Schirinowski. Daneben existiert in Bulgarien, Rumänien und Polen die
Strömung der Klerikalfundamentalisten, die in Polen mit Radio Maryja
über einen eigenen einflussreichen Sender verfügt. In der Slowakei,
in Bulgarien und Litauen finden sich daneben noch ultrakonservative
Parteien und in Polen mit der Konföderation Unabhängiges Polen
außerdem eine radikalpopulistische.
Polen
In Polen legalisierte die Systemtransformation nicht
nur die rechtsradikalen "dissidentischen" Bewegungen der siebziger
und achtziger Jahre, sie führte auch zu zahlreichen
rechtsextremistischen Neugründungen, die sich auf das "Erbe"
ultranationalistischer und antisemitischer Parteien und Bewegungen
der Zwischenkriegszeit berufen. So entstand in den neunziger Jahren
in allen Teilen Polens eine rechtsradikal-nationalistische und
neofaschistische Szene von Parteien, paramilitärischen
Organisationen, Verlagen, Zeitungen und Musikbands (Rock Against the
Commune, Zyklon B) sowie militanten Skinheadgruppen, die
internationale Verbindungen mit Gleichgesinnten in Deutschland, den
USA, Österreich, Spanien, Italien, Frankreich und Südafrika pflegen.
Die Ursachen rechtsextremistischer Gewalt sind nicht zuletzt darauf
zurückzuführen, dass Politiker der großen Volksparteien, ihre
populistischen Führer und auch Vertreter des fundamentalistischen
Teils des Klerus die politische Ressource Antisemitismus für Erhalt
und Ausbau ihrer Macht seit langem in einem Land fast ohne jüdische
Mitbürger nutzen und wieder einen Sündenbock für ihre verfehlte
Politik gefunden haben.
Tschechien
In Tschechien sitzt mit den Republikanern seit 1992
eine extrem nationalistische und fremdenfeindliche Partei im
Parlament. Zur Zeit verfügen sie über 18 Abgeordnete (bei 200
Parlamentssitzen). Ihren größten Einfluss haben die Republikaner
unter jungen Männern mit Grundschulausbildung (ohne
Berufsausbildung) in den deindustrialisierten Gebieten Nordböhmens
und Nordmährens, wo die Roma einen überdurchschnittlichen
Bevölkerungsanteil bilden. Die Rechtsextremisten ermordeten zwischen
1990 und 1997 27 Roma (siehe Kasten).
Ungarn
Ungarn blieb am Anfang des Transformationsprozesses
von rechtsextremistischen Parteien und Organisationen verschont.
Erst ein vom Schriftsteller Istvan Csurka verfasstes Pamphlet
"Einige Worte zum Systemwechsel" löste 1992 eine antisemitische und
nationalistische Kampagne aus. Das größte Unglück bestünde darin,
dass das internationale jüdische Finanzkapital mit der gewendeten
kommunistischen Nomenklatura zum Nachteil der ungarischen Nation
zusammenarbeite. Csurka gründete mit 29 Abgeordneten der
rechtskonservativen Regierungspartei Ungarischen Demokratischen
Forum eine rechtsextremistisch-völkische Partei der Ungarischen
Wahrheit und des Lebens (MIEP). Die MIEP wurde zunächst als
außerparlamentarische Partei zum Sammelpunkt rechtsextremistischer
Gruppen und mit ihnen verbundenen Skinheadbanden (4.000 Mitglieder
und 160.000 Sympathisanten). 1998 gelang ihr mit 14 Abgeordneten der
Einzug ins Parlament.
Fazit: Unverkennbar ist, dass im Gefolge des
Transformationsprozesses in Mittel- und Osteuropa
rechtsextremistische Bewegungen an Größe und Breitenwirkung gewonnen
haben. Die Einflüsse der westeuropäischen rechtsextremistischen
Szene sind ebenso nachweisbar wie der Versuch, soziale Konflikte
durch eine Revitalisierung faschistischer, antisemitischer und
ultranationalistischer Ideologien aus der Zwischenkriegszeit zu
kanalisieren.
Allen Staaten gemeinsam ist, dass im Zuge der
antikommunistischen und nationalistischen Kampagnen seit der Wende
1989 sowohl Führer faschistischer Parteien und Organisationen als
auch Kollaborateure Hitlers und Mussolinis als "Patrioten" im Kampf
für Vaterland und gegen die "bolschewistische Gefahr" rehabilitiert
und aufgewertet wurden. Nach dem Muster westlicher Revisionisten und
Holocaustleugner wird der Anteil der altfaschistischen Eliten am
Massenmord der europäischen Juden und Roma geleugnet.
Nationalistische Mythen sind Bestandteile der Systemtransformationen
seit 1989 geworden und haben ein wichtiges ideologisches und
politisches Reservoir für Rechtsextremismus, Rassismus,
Neofaschismus und Antisemitismus geschaffen.
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