[Antisemitismus in
Osteuropa]
Die jüdischen Gemeinden in Vlora und Delvine:
Rettung in Albanien
Von Max Brym
Weltgeschichte wurde zwar nicht geschrieben, aber
erwähnenswert ist es allemal. Albanien war nach dem zweiten
Weltkrieg, das einzige von den Faschisten besetzte Land, indem es
mehr Juden gab als vorher. Zu diesem Schluß gelangt der
US-amerikanische Historiker Harvey Samer in seinem 1998 erschienenen
Buch "Rescue in Albania".
Albanien und jüdische Gemeinden
Im Jahr 1937 gab es in Albanien zwei jüdische Gemeinden
in Vlora und in Delvine. Beide Städte befinden sich in Südalbanien.
Insgesamt waren 1937 in ganz Albanien 120 Juden und Jüdinnen amtlich
registriert. Allerdings waren zu diesem Zeitpunkt bereits einige
hundert verfolgte jüdische Menschen aus Deutschland und ab 1938 aus
Österreich gelandet. Es war für sie kein großes Problem ein Visum zu
erhalten oder die Angelegenheit mit etwas Bakschis zu regeln. In
Albanien gab es keinerlei antisemitische Tradition, im Gegenteil,
die alteingesessenen Juden erfreuten sich in der Bevölkerung einer
ausgesprochenen Beliebtheit. Das Land ist zu neun Zehnteln gebirgig
und war damals das ärmste Land in Europa. Viele Bauern verließen nie
das heimatliche Dorf. Für viele waren die Juden die einzige
Verbindung zur Stadt.
Die jüdischen Gemeinden in Vlora und Delvine hatten
enge Verbindungen zur jüdischen Gemeinde Ioannina in
Nordgriechenland. Häufig machten sich die Juden auf ins Hochgebirge,
um den Bauern Güter des täglichen Bedarfs oder auch um ein
Brautgeschenk zu bringen. Am 9. April 1939 wurde Albanien vom
faschistischen Italien besetzt, aber die antisemitischen
Verordnungen wurden von der albanischen Bevölkerung einfach
ignoriert. Auch die italienischen Behörden legten wenig Ehrgeiz an
den Tag, um den antisemitischen Bestimmungen aus Rom nachzukommen.
Bis zum Sommer 1943 konnten jüdische Feste relativ frei gefeiert
werden. Die Zahl der Juden in Albanien stieg in dieser Periode durch
Flüchtlinge aus Serbien und Kroatien auf annähernd 500 Personen an.
Schlagartig änderte sich die Lage der Juden im Herbst 1943, durch
den Einmarsch der Hitlerwehrmacht in Albanien.
Der Kanun, die Partisanen und die Nazis
Sofort nach dem Einmarsch wollten die Nazis auch in
Albanien die Juden erfassen und deportieren. Dabei stießen sie
jedoch auf ungeahnte Hindernisse. In Albanien gab es, vor allem im
Süden, eine starke Partisanenbewegung. Die Ablehnung der
Naziintervention war so stark, dass selbst der von den Nazis
eingesetzte Innenminister Xhaver Deva die Erstellung der Listen
verzögerte. Er wußte wahrscheinlich, dass er sich damit nicht nur
gegen die Partisanen stellte, sondern auch gegen die Gesetze des
albanischen Kanun. Nach dem Einmarsch der Nazis boten hauptsächlich
albanische Bauern in entlegenen Gebirgsregionen den Juden das
Gastrecht in ihren Häusern an. Nach dem uralten albanischen
Ehrenkodex ist das Gastrecht heilig und eine Frage der Ehre. Im
albanischen Kanun steht: "Das Haus gehört Gott und dem Gast".
Ende 1943 versteckte ein Bauer aus Kruje in der nähe
von Tirana 10 Juden in seinem Speicher. Die Juden hatten Angst und
befürchteten, dass die Nazis anlässlich der angekündigten Razzia,
das ganze Haus anzünden könnten. Sie teilten dem Bauern Sula Mecaj
ihre Befürchtungen mit. Daraufhin schickte der Bauer Mecaj seinen
Sohn zu den Juden in das Dachgeschoß. Rund fünfzig Jahre später
erklärte der noch lebende Sohn des Bauern: "Das sei für ihn eine
Frage der Ehre gewesen".
Resümee
In Albanien kam während des zweiten Weltkrieges bis auf
ein Ehepaar (jene fielen im Kampf als Partisanen) kein Jude ums
Leben. Anders erging es den Juden in der nordgriechischen Stadt
Ionnina, die Gemeinde hatte dort im Jahre 1939 1950 Mitglieder, am
24. März 1944 wurden 1860 Personen nach Auschwitz deportiert. Eine
von den Nazis geplante Deportation von Juden aus Vlora kam nie
zustande. Der Widerstand der albanischen Partisanen und die Gesetze
des Kanuns verhinderten dies. Im Jahr 1945 verließen die Hälfte der
geretteten Juden Albanien. Danach war eine Auswanderung unter dem
Regime von Enver Hoxha nicht mehr möglich. Erst im Jahr 1991
emigrierten rund 300 albanische Juden nach Israel. Heute gibt es in
Albanien nur noch vereinzelt Juden, die meist in gemischten Ehen
leben.
hagalil.com
03-03-03
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